Die anthropologische Friedensforschung geht der Frage nach den soziokulturellen Bedingungen und Dimensionen für ein friedliches, (mehr-als-)menschliches Zusammenleben nach. Den Auftakt hierzu bildeten in den 1960er Jahren Forschungen zu Peaceful Societies, die später auf Peace Systems ausgeweitet wurden. Neuere Forschungen beschäftigen sich im Bereich der anthropologischen Transitional-Justice-Forschung oder des Local Peacebuilding seit den 2000er Jahren mit friedensbildenden Prozessen in multidisziplinären Forschungsfeldern. Damit änderte sich der Gegenstand der anthropologischen Friedensforschung und ihre interdisziplinäre Rezeption. Die Peaceful-Society-Forschung hatte eher kleine, häufig indigene und teils essentialisierte Gemeinschaften zum Gegenstand, arbeitete mit klassischen theoretischen Ansätzen, wie bspw. dem Evolutionismus, der symbolischen Anthropologie und Ethnopsychologie, wurde aber außerhalb der eigenen Disziplin, mit Ausnahme der Verhaltensforschung, kaum wahrgenommen. Die jüngere anthropologische Friedensforschung nimmt ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure jenseits kleiner indigener Gesellschaften in den Blick, fokussiert auf friedensbildende Prozesse und bereichert den interdisziplinären Austausch mit Ansätzen, Konzepten und Methoden, wie bspw. Ethnographie, Friktion und einen Fokus auf lokale Perspektiven und Handlungsstrategien. Gemein ist diesen Forschungsfeldern, dass sie die sozio-kulturellen Bedingungen – wie bspw. symbolische Ordnungen und
Werte, gewaltreduzierende Strategien und Verfahren, soziale und ökonomische Strukturen – in den Blick nehmen, die es Gesellschaften und sozialen Gruppen ermöglichen, ein friedliches Zusammenleben zu etablieren und zu erhalten, was für die Friedenspsychologie fruchtbare Anschlussmöglichkeiten bieten könnte. Diese Forschungsfelder enger zu verzahnen und neuere Theoriedebatten, wie bspw. den Ontological Turn, oder eine dekoloniale anthropologische Praxis stärker in den interdisziplinären Dialog zu tragen, erscheint notwendig, damit sich die anthropologische Friedensforschung im interdisziplinären Kontext weiter konsolidiert.

Schlüsselwörter: anthropologische Friedensforschung, friedliche Gesellschaften, nicht-kriegsführende Gesellschaften, nicht-tötende Gesellschaften, Friedenssysteme, Übergangsjustiz, lokale Friedensbildung, Friedensgemeinden

Philipp Naucke

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Sozial- und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Promotion (2020) an der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Politische Anthropologie, Anthropologie des Staates, Konfliktanthropologie. Aktuelle Forschungsinteressen: Staat-Bevölkerungsbeziehungen, zivile Handlungsmacht, Friedensprozesse und (Un)Sicherheit in Konfliktregionen Kolumbiens und Guatemalas.

Ernst Halbmayer

Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Philipps-Universität Marburg. Promotion (1997) und Habilitation (2008) an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Konfliktanthropologie, Umweltanthropologie, Anthropologie des Südamerikanischen Tieflandes. Aktuelle Forschungsinteressen: Anthropologie der Isthmo-kolumbianischen Region, Soziale Klimawandelfolgen, Folgen des kolumbianischen Friedensprozesses, Graphische Kommunikationssysteme.