Antisemitismus, die Feindschaft gegen Juden als Juden – das heißt: eben deshalb, weil sie Juden sind – hat die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte hervorgebracht und macht den Kampf gegen den Antisemitismus zur vordersten Frontlinie im Kampf für die Menschenrechte. Seit Israel auf der UN-Konferenz von Durban 2001 der Apartheidpolitik bezichtigt wurde, machen sich jedoch Tendenzen breit, den Antisemitismusbegriff auszuhöhlen, so dass Gegnerschaft zu Israel als „ultimativer Antisemitismus“ erscheint. Der vorliegende Aufsatz differenziert zwischen Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik und Feindschaft gegenüber Israel und präsentiert empirische Befunde, die dafürsprechen, dass (1) Antisemitismus und Antizionismus zwar miteinander korrelierende, jedoch verschiedene Einstellungsdimensionen sind, und (2) Israelkritik nicht deckungsgleich mit antisemitischen Haltungen ist. Entscheidend für die Unterscheidung zwischen israelbezogenem Antisemitismus und nicht-antisemitischer Israelkritik ist, aus welcher Haltung heraus Israel kritisiert wird, wobei vier verschiedene Spielarten von Unterstützung vs. Kritik der israelischen Palästinapolitik identifiziert werden können: Unterstützung der israelischen Politik, latent antisemitische Vermeidung von Israelkritik, antisemitische Israelkritik und menschenrechtsbasierte Israelkritik. Dabei zeigt sich, dass die antisemitische Komponente israelfeindlicher Einstellungen weniger durch eine gezielt gegen Juden gerichtete Haltung bedingt ist als durch einen umfassenderen Rassismus, der sich auch gegen Muslime richtet, wobei deutsche Islamfeindlichkeit und deutscher Antisemitismus sowohl empirisch als auch historisch und phänomenologisch enger miteinander verwandt sind als muslimischer und deutscher Antisemitismus. Wenngleich der muslimische Antisemitismus teilweise dieselben judenfeindlichen Stereotype bedient wie der deutsche Antisemitismus (insbesondere den Glauben an die Macht des Judentums), hat er jedoch eine andere Entstehungsgeschichte und ist der unter Juden zu findenden Islamfeindlichkeit näher verwandt als dem deutschen Antisemitismus. Während der israelbezogene Antisemitismus die Feindschaft gegen Juden auf Israel überträgt, überträgt der muslimische Antisemitismus die Feindschaft gegen Israel auf die Juden. Die Gefahr, dass israelkritisches Engagement für die Rechte der Palästinenser auch unter nicht-muslimischen Deutschen zu einer Wiederbelebung antisemitischer Einstellungen führen kann, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.

Schlüsselwörter: Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik, israelbezogener Antisemitismus, muslimischer Antisemitismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit, Menschenrechte


Wilhelm Kempf


Wilhelm Kempf ist Professor emeritus für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz. Seit 2002 ist er Herausgeber von conflict & communication online (www.cco.regener-online.de). Seine Forschungsinteressen umfassen quantitative und qualitative Forschungsmethoden, gewaltfreie Konfliktlösung, Friedensjournalismus und die soziale Konstruktion der Wirklichkeit in den Massenmedien. Zuletzt arbeitete er an einem Forschungsprojekt über „Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus”.

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