Wieso ist es für die Gegenwart und insbesondere für gegenwärtige Konflikte wichtig, wie wir unsere Geschichte erinnern? Die Erinnerungskultur einer Gruppe prägt ihr Selbstverständnis, ihre soziale Identität, und beeinflusst damit, wie Menschen auf gegenwärtige Herausforderungen oder Bedrohungen reagieren und ob diese Reaktionen Gewalt oder Frieden begünstigen. Wie vergangene Konflikte innerhalb und zwischen Konfliktparteien bewältigt werden, hat einen großen Einfluss auf die Versöhnung zwischen diesen Parteien. Häufig werden während eines Konfliktes Narrative über die andere Partei verbreitet, die auch nach einem offiziellen Ende des Konfliktes in Vorurteilen und Diskriminierung fortbestehen, wenn keine Aufarbeitung erfolgt. Auch zukünftige Gewalt in anderen Kontexten oder gegen andere, neue Konfliktparteien kann durch (fehlende) Aufarbeitungsprozesse verhindert oder gefördert werden. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte stößt jedoch auf verschiedene psychologische Barrieren, da Menschen danach streben, ein positives und moralisches Bild ihrer Gruppe aufrechtzuerhalten. Bezogen auf die kollektive Erzählung ihrer Geschichte hat dies häufig zur Folge, dass negative Handlungen der Eigengruppe nicht konstruktiv behandelt werden oder es zu einem Wettbewerb von Opfernarrativen kommt. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns aus sozialpsychologischer Sicht damit, wie Repräsentationen von Geschichte mit den Identitätsbedürfnissen einer Gruppe in der Gegenwart zusammenhängen, wie Konflikte aus Täter_innen- und Opferperspektive erinnert werden und schließlich, wie Geschichte produktiv erinnert und Frieden gefördert werden kann.


Schlüsselwörter: Kollektives Gedächtnis, Geschichte, Identität, Aufarbeitung, Täter_innen,
Opfer, Intergruppenbeziehungen, Konflikte


Carmen Lienen

Carmen Lienen (Dr. rer. nat., Philipps-Universität Marburg, 2023) erforscht als Sozialpsychologin soziale Repräsentationen von Geschichte und wie diese kollektive Identitäten, politische Handlungen und Intergruppenbeziehungen in der Gegenwart beeinflussen. Weitere Forschungsbereiche sind sozialpsychologische Aspekte von Migration und Ungleichheit. Sie hält einen Masterabschluss in Social and Cultural
Psychology von der London School of Economics and Political Science (2017) und einen Bachelor in Psychologie von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (2016).

Christopher Cohrs

Christopher Cohrs (Dr. phil, Universität Bielefeld, 2004) ist Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, ehemaliger Vorsitzender des Forums Friedenspsychologie und Gründungsherausgeber des Journal of Social
and Political Psychology. Seine Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf Intergruppenbeziehungen und Vorurteile, politische Ideologien, politische Einstellungen, soziale Repräsentationen von Konflikten, kollektives Opferbewusstsein
sowie sozialpsychologische Aspekte von Nachhaltigkeit.